Polit.System
Geschichte

Mentalität der Schweizer

Aussagen über soziale Erscheinungen sind immer mehr als nur ein bisschen riskant (und allzu häufig fragwürdig): Selbst wenn sie auf Umfragen oder anderen statistischen Daten beruhen lassen sie (und erfordern auch) viel mehr Raum für Interpretation als geografische oder wirtschaftliche Daten.

Über die Mentalität einer Gruppe von Menschen zu sprechen ist also immer das, was man in der Schweiz im übertragenen Sinn eine "Gratwanderung" nennt und was mit einer entsprechend grossen "Absturzgefahr" in Vorurteile und Klischees behaftet ist.

Das gilt umso mehr, wenn es sich um eine sehr heterogene Gruppe handelt, im Falle der Schweiz um eine Nation, deren Regionen sich drei verschiedenen Sprach- und Kulturräumen zugehörig fühlen und sich gleichzeitig in unterschiedlichem Masse von selbigen abzugrenzen versuchen.

Schweigen ist Gold, aber es hilft nicht, die Eigenart der Schweiz und der Schweizer zu verstehen - egal ob Sie in der Schweiz Urlaub machen wollen, einen Studienplatz oder Arbeit suchen oder auch einfach nur verstehen möchten, weshalb sich die Schweizer so schwer tun mit dem formalen EU-Beitritt während sie gleichzeitig überall dort, wo sie bilaterale Abkommen mit der EU abgeschlossen haben, sich bei deren faktischer Umsetzung als Musterschüler profilieren - trotz aller (deutlich vernehmbaren) Nebengeräusche.
Dies gilt auch und gerade bei der Personenfreizügigkeit und in der Asylpolitik - aus Schweizer Sicht ist der in Deutschland als ausserordentliche Krise empfundene Zustrom seit Sommer 2015 nämlich seit Jahren Alltag und trifft die Behörden auf allen Stufen weniger unvorbereitet (als die Mehrzahl der Flüchtlinge via Italien statt Griechenland einreiste, war das erste Aufnahmeland, das sie konsequent nach den Schengen/Dublin-Abkommen registrierte und aufnahm die Schweiz).

Versuchen wir also, uns an die Mentalität der Schweizer anhand der folgenden Stichworte heranzutasten: Klein aber oho, Igelmentalität, Perfektionismus, Sparsamkeit, Ausgleich, Kompromisskultur, Kantönligeist, Stabilität, Innovationskraft, Mehrsprachigkeit.

Schweizer Mentalität

Vorbemerkung: Die Schweiz ist zutiefst in der westeuropäischen Kultur verankert

Diese Aussage mag trivial tönen, aber sobald man über das mehr als nur verkrampfte Verhältnis der Schweiz zur EU nachzudenken beginnt, ist es wichtig genau hinzuschauen, wo die Gemeinsamkeiten und wo die Eigenheiten wirklich liegen. Aus einer globalen Perspektive betrachtet, ist die Schweiz zunächst einmal ein ganz typisches westeuropäisches Land, wo demokratische Grundwerte wie Freiheit, Liberalismus, Vielfalt, Toleranz, Sozialstaat und nicht zuletzt die europäische Art der Trennung von Religion und Staat (im Gegensatz nicht nur zur islamischen Welt, sondern mindestens ebenso sehr zur US-amerikanischen Auffassung) hochgehalten werden.

Trotz aller Versuche einiger rechtsextremer selbsternannter schweizerischer Superpatrioten wie Christoph Blocher oder Roger Köppel, fundamentale Unterschiede zwischen der Schweiz und dem übrigen Europa hochzustilisieren muss die grundsätzliche Verankerung der Schweiz im westeuropäischen Kulturraum immer im Auge behalten werden. Schweizer Philosophen, Politiker und Wissenschaftler haben wesentliche Beiträge zum gemeinsamen europäischen Kulturerbe geleistet und die Schweiz war eines der ersten Länder, die sich eine moderne demokratische Verfassung gegeben und im Alltag umgesetzt haben.

Obwohl es töricht wäre zu leugnen, dass die erste moderne demokratische Verfassung der Schweiz von 1848 einige wesentliche Grundsätze aus der US-amerikanischen Verfassung übernommen hat, sollte man ebensowenig übersehen, dass die US-amerikanische Verfassung auf europäischen Ideen fusst, zu denen u.a. der Schweizer Philosoph Jean-Jacques Rousseau beigetragen hat.

Sobald man allerdings etwas tiefer geht und nach dem grundsätzlichen Verständnis des Staates fragt, ist die Schweiz eindeutig ein ganz normales europäisches Land, in dem z.B. die rechtsstaatliche Grundordnung über religiösen Traditionen steht und die Religion keine tragende gesellschaftliche Funktion mehr hat (dies im Gegensatz zu den USA) und wo ein gut ausgebauter Sozialstaat eine Selbstverständlichkeit ist und im Detail nicht mehr und nicht weniger und auch nicht mit anderen Hauptargumenten über Sparmassnahmen im Sozialbereich gerungen wird als in anderen westeuropäischen Ländern - auch dies im Gegensatz zu den USA, wo der europäische Sozialstaat zumindest von republikanischen Politikern oft mit Kommunismus gleichgesetzt bzw. verwechselt wird.

Nachdem nun also klargestellt ist, dass die Schweiz in allen wesentlichen Punkten eindeutig ein westeuropäisches Land ist und die Unterschiede zwischen den wichtigsten Ländern des "Westens" (USA und Grossbritannien auf der einen, west- und nordeuropäische Staaten auf der anderen Seite) grösser sind als diejenigen zwischen Westeuropa und der Schweiz, darf man es wohl wagen, auf einige Eigenheiten der Schweiz einzugehen und ein bisschen auszuloten, was an den gängigen Klischees dran ist und was nicht.


Die Schweizer lieben es klein

Die meisten Schweizer (zumindest die "Eingeborenen") würden der Aussage small is beautiful wohl zustimmen und es gibt in der Schweiz eine ausgeprägte Reserviertheit, wenn nicht gar offene Ablehnung gegenüber allem und allen, die mit Grösse prahlen. Die Liebe der Schweizer zur Kleinheit wird auf den Punkt gebracht mit der Endung "-li", die in den schweizerdeutschen Dialekten sehr häufig an die Hauptwörter angehängt wird oder mit ihnen gar untrennbar verbunden ist wie z.B. in Guetzli [Keks], Müesli oder dem als Test-Zungenbrecher für ausländische Besucher gerne verwendeten Chuchichäschtli [Küchenschrank]. Das "-li" ist übrigens auch nicht so spezifisch für die Schweiz, wie manche Norddeutsche meinen, denn es handelt sich schlicht um ein gemeinsames alemannisches Erbe, das die deutschsprachige Schweiz mit Südwestdeutschland teilt (vgl. dazu in ganz Deutschland bekannte Begriffe wie Spätzle und Tannzäpfle).

Abgesehen von diesem im Schweizerdeutschen so augenfälligen sprachlichen Ausdruck teilen auch die Französisch und Italienisch sprechenden Schweizer in der Abgrenzung zum grossen Nachbar Frankreich bzw. Italien diese stolz-trotzige Vorliebe für das Kleine, nicht zuletzt dann, wenn es darum geht, die als dominant empfundene Deutschschweiz(er) (74% der Bevölkerung) nicht zu gross werden zu lassen ...


Igelmentalität

Wenn ein Igel Gefahr wittert, rollt er sich zusammen und zeigt seine Stacheln. Das Bild des wehrhaften kleinen Igels wurde in der Schweiz vor und während dem 2. Weltkrieg populär, als die Schweiz faktisch von Nazi-Deutschland und seinen Verbündeten umstellt war (Österreich annektiert, Italien unter Mussolini, Vichy-Frankreich von Hitler abhängig). Das Igel-Syndrom fand während des Kalten Krieges ein neues Feindbild im Kommunismus und verfestigte sich immer mehr.

Es gibt allerdings einen signifikanten Unterschied zwischen den Deutsch und Italienisch sprechenden Schweizern einerseits und den Französisch sprechenden andererseits, der darauf beruht, dass sowohl Hitler wie Mussolini die jeweiligen Sprachregionen der Schweiz ihrem Herrschaftsbereich einverleiben wollten, Frankreich dagegen im 20. Jahrhundert keine derartigen Gelüste zeigte. Ältere Schweizer erinnern sich an den während der Naziherrschaft vom Deutschen Rundfunk verbreiteten Propagandaspruch

"Die Schweiz das kleine Stachelschwein
nehmen wir auf dem Rückweg ein."

Während also im deutsch- und im italienischsprachigen Teil der Schweiz das Verhältnis zum grossen Nachbar historisch von der Angst vor dem Verlust staatlicher Eigenständigkeit und vor der Unterjochung unter eine totalitäre Diktatur belastet ist, wird in der französischsprachigen Schweiz der Nachbar Frankreich umgekehrt eher als Verbündeter im Befreiungskampf gegen die Unterdrückung durch die übermächtige Deutschschweiz wahrgenommen (Helvetische Revolution 1798).

Diese unterschiedlichen historischen Erfahrungen wirken bis heute nach und prägen die in den Landesteilen unterschiedlichen Auffassungen von Aussenpolitik ebenso wie das Verhältnis breiter Bevölkerungsschichten und insbesondere der Eliten zu den lokalen Dialekten. Während die französischen Dialekte in der Westschweiz als rückständige Bauernsprache gelten und vom Standardfranzösisch weitest gehend verdrängt worden sind, grenzt man sich in der deutsch- und italienischsprachigen Schweiz mit einer gehörigen Portion Stolz auch sprachlich vom grossen Nachbar ab und verachtet den Dialekt nicht als Unterschichtssprache.


Schweizer Qualität, Perfektionismus, Präzision und Pünktlichkeit

Präzision und Pünktlichkeit werden in Nord- und Westeuropa allgemein weit höher geschätzt als in anderen Teilen der Welt, trotzdem gibt es wenig Zweifel daran, dass die Schweizer sich in diesen Disziplinen als besondere Streber profilieren. Qualitätsprodukte wie Schweizer Uhren und Messgeräte aller Art haben in der Schweiz eine lange Tradition.

Die Kehrseite dieser Medaille besteht darin, dass die Schweizer im Ausland bzw. gegenüber Ausländern manchmal recht schnell ungeduldig oder pedantisch werden können. Immerhin kann man festhalten, dass die Unterschiede gegenüber Deutschen diesbezüglich sehr gering ausfallen. Wer dies nicht glaubt, sollte mal im ICE von Basel nach Norden fahren und sich den lautstark in eindeutig geschliffenem Hochdeutsch vorgetragenen Protest der Fahrgäste im - leider nicht allzu seltenen - Verspätungsfall anhören ...


Sparsamkeit

Die Schweiz hatte traditionell eine der höchsten Sparquoten und jedes Kind schloss schon mit dem Sparschweim Bekanntschaft, bevor es richtig laufen konnte. Mit Aufrufen zur Haushaltsdiszplin können Politiker immer noch gut punkten, während es beim individuellen Verhalten eher danach aussieht, dass sich die Bevölkerung dem europäischen Durchschnitt annähert.

Auch punkto Sparsamkeit gilt: erstens gibt es sprachregionale Unterschiede und zweitens handelt es sich bei der in der Deutschschweiz besonders hoch gehaltenen Sparsamkeit um eine allgemein alemannische Eigenschaft, wie schon der bekannte schwäbische Wahlspruch "Schaffe, schaffe, Häusle baue" belegt.


The beautiful Swiss machine: Suche nach Ausgleich

Vor rund 40 Jahren titelte der englischsprachige Dienst von Schweizer Radio International ein Landesportrait mit diesen Begriffen, die auch heute noch gültig sind. Die Schweizer leben in einem verletzlichen Ökosystem, hängen zu einem erheblichen Anteil von den Einkünften aus dem Tourismus ab und mussten deshalb früh lernen, mit der Natur zu kooperieren statt sie zu bekämpfen oder rücksichtslos auszubeuten. Umgekehrt haben der Mangel an natürlichen Rohstoffvorkommen und die hohe Bevölkerungsdichte dazu geführt, dass in der Schweiz die Industrialisierung früher eingesetzt hat als in anderen Ländern auf dem europäischen Festland.

Die Folge daraus ist eine Gewohnheit, ständig und überall ein Gleichgewicht zwischen Natur und Technik zu suchen. Während es ein erklärtes und allgemein anerkanntes Ziel ist, auch das hinterste Alpental besiedelt zu halten und die neueste Technologie in die abgelegensten Dörfer zu bringen, wird dem Umwelt- und Landschaftsschutz grosses Gewicht beigemessen. Selbstverständlich geht dies nicht ohne Konflikte ab, die vielleicht mit etwas weniger deftiger Rhetorik ausgefochten werden als in Deutschland, in der Sache aber durchaus hartnäckig.

Die Schweizer mögen von einem moralischen Standpunkt aus betrachtet nicht unbedingt ökologischer denken und handeln als andere Nationen und es ist auch offensichtlich, dass sie als Individuen sich häufig für die eigene Bequemlichkeit und gegen nachhaltiges Verhalten entscheiden. Politisch besteht aber eine hohe Sensibilität für die mittel- und langfristigen Folgen von grossen Investitionen und Grossprojekte werden wohl breiter und intensiver diskutiert als in anderen Ländern. Das Resultat sind dann oft Lösungen, bei denen Grösse und Prestige zugunsten von Nachhaltigkeit etwas weniger stark gewichtet werden als anderswo.

So hat die Schweiz zwar nur 50 km Eisenbahn-Hochgeschwindigkeitsstrecke - und auch die ist bloss mit 200 km/h zu befahren - aber nirgendwo auf der Welt hat der öffentliche Verkehr einen höheren Anteil am gesamten Verkehrsaufkommen und nirgendwo wird das Schienennetz so dicht befahren wie in der Schweiz (was u.a. auch einen geringeren Kulturlandverbrauch pro Personen- bzw. Tonnenkilometer bedeutet). Auch in der Schweiz sind Steuern nicht populär, trotzdem ist das Stimmvolk bereit, vergleichsweise riesige Summen für den Ausbau des öffentlichen Vekehrs und für die ökologisch sinnvolle Verlagerung des Güterverkehrs von der Strasse auf die Schiene einzusetzen.


Direkte Demokratie und Kompromisskultur

Damit sind wir schon bei den Besonderheiten der Demokratie in der Schweiz. Obwohl die Direkte Demokratie im Ausland oft als exotisch wahrgenommen wird, unterscheiden sich die staatlichen Institutionen in Deutschland oder Österreich wohl weniger von denen der Schweiz als von denen in Frankreich oder Grossbritannien, einmal ganz abgesehen vom europäischen Grundkonsens (recht konsequente Gewaltenteilung, Gesetzgebung durch frei gewählte Parlamente, Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention - die ja bekanntlich schärfer ist als die UNO-Menschenrechtskonvention und z.B. die Todesstrafe explizit verbietet). Den deutschsprachigen Ländern Europas ist im Gegensatz zu Frankreich, Italien oder Grossbritannien ein föderalistisches Staatsmodell gemeinsam, das den Bundesländern und den Gemeinden recht weit gehende Autonomie zugesteht.

Dass die Schweiz es mit der Autonomie noch etwas weiter treibt als Deutschland und Österreich ist dabei so wenig erheblich wie die Tatsache, dass die Schweiz einige Begriffe - allerdings mit anderer Bedeutung als im Original - von Frankreich übernommen hat und Deutschland es für nötig befunden hat, einige seit 1848 in der Schweiz verwendete deutsche Begriffe nachträglich im 20. Jahrhundert mit anderer Bedeutung zu versehen. Das alles trägt wenig zum gegenseitigen Verständnis bei, ganz abgesehen davon, dass jeder Haushalt in der deutschsprachigen Schweiz grundsätzlich schon seit Jahrzehnten zu deutschen Radio- und Fernsehprogrammen Zugang hat, was umgekehrt schon für Teile von Baden-Württemberg nicht gilt und dazu führt, dass die Schweizer im Durchschnitt wesentlich besser über die deutsche Politik informiert sind als umgekehrt.

Der entscheidende Unterschied liegt auch nicht daran, dass in der Schweiz in Volksabstimmungen ab und zu etwas abgelehnt wird, was sich Regierung und Parlament ausgedacht haben - das kommt nämlich ebenso selten vor wie die Annahme einer Volksinitiative zu einer Forderung, die sich ohne dieses Instrument mit den üblichen parlamentarischen Mitteln nicht durchsetzen liess.

Wirklich relevant ist vielmehr, dass allein schon die Möglichkeit einer Referendumsabstimmung bzw. die Drohung damit, eine solche herbeizuführen, den Einfluss der öffentlichen Meinung auf die Parlamentarier verstärkt. Dabei geht es wohlgemerkt nicht um den Einfluss derjenigen Kreise, die den grössten Einfluss auf wichtige Medien haben, sondern darum, die Anliegen wichtiger Bevölkerungsgruppen Ernst zu nehmen und ausgewogene, mehrheitsfähige Lösungen zu finden.

In der Schweiz wird die Politikerkaste (hierzulande "classe politique" oder weniger vornehm "die z'Bärn obe" genannt) durch die ständige Androhung eines Referendums gezwungen, frühzeitig einen breit abgestützten Kompromiss zu erarbeiten statt eine einseitige Lösung mit einer knappen parlamentarischen Mehrheit durchzuboxen. Selbstverständlich ist dieser Weg aufwändiger und braucht auch etwas mehr Zeit, vor allem wenn man berücksichtigt, dass jede Gesetzesvorlage ein ausführliches Vernehmlassungsverfahren durchlaufen muss, bei dem sich nebst den ohnehin im Parlament vertretenen Parteien und den Kantonen [Bundesländern] auch eine Vielzahl von Interessengruppen (Arbeitgeber-, Arbeitnehmer- und Berufsverbände, Umweltschutzgruppen, Automobilclubs usw.) äussern und ihre Anliegen einbringen können. In der heutigen schnelllebigen Zeit wird dieser zeitliche Aufwand oft als Nachteil empfunden und dargestellt. Dabei wird allerdings übersehen, dass gute Lösungen auch nachhaltig sein müssen und letztlich in einer pluralistischen und individualisierten Gesellschaften die Akzeptanz einer gesetzlichen Regelung mindestens so wichtig ist wie die Geschwindigkeit mit der die Politik auf neue Herausforderungen reagieren kann.

Tatsache ist, dass es in der Schweiz keine ernstzunehmende politische Kraft gibt, die das System der direkten Demokratie grundsätzlich in Frage stellt - weder die nationalkonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) von Blocher noch die Sozialdemokraten, ja selbst die neoliberalen Freisinnigen (FDP) sind schlau genug, um die Vorteile des Systems zu erkennen. Während die Wirtschaftsvertreter gerne lautstark nach weniger staatlicher Regulierung rufen, wissen sie im Grunde sehr wohl zu schätzen (und geben dies ab und zu hinter vorgehaltener Hand auch zu), dass stabile staatliche Rahmenbedingungen für die Wirtschaft letztlich günstiger sind, als die Aussicht, nach den Wahlen das eigene Geschäftsmodell an ein verändertes politisches Umfeld anpassen zu müssen.

Ein weiterer Vorteil der direkten Demokratie besteht darin, dass ausgewogene Kompromisse von einer breiten Bevölkerungsmehrheit mitgetragen werden. Die Schweizer entscheiden sich in der Regel lieber für den Spatz in der Hand, der ihnen auch langfristig garantiert wird als für die Taube auf dem Dach, von der sie - nüchtern und unromantisch wie sie sind - eigentlich genau wissen, dass sie die nie kriegen werden. So sind in der Schweiz Aktionen der ausserparlamentarischen Opposition wie die längst zum Ritual erstarrten Blockaden der Castor-Transporte in Deutschland oder die monatelangen Aktionen gegen Stuttgart 21 nicht nur sehr selten, sondern auch im besten Sinne überflüssig.

In der Schweiz wurde z.B. schon in den 1970-er Jahren ein Prestigeprojekt für eine Hochgeschwindigkeitsstrecke vom Bodensee zum Genfersee in einer Volksabstimmung "beerdigt", gebaut wurden dagegen zahlreiche kleine Erweiterungen am Eisenbahnnetz, dank derer die Intercity-Züge heute auf Hauptlinien im Halbstundentakt verkehren und gleichzeitig die Kleinstädte und Dörfer mit Nebenbahnen oder Bussen im Stundentakt an das nationale Netz angebunden sind. Die Jahr für Jahr steigende Benutzung des Angebotes zeigt, dass dieser vom angeblich «unbedarften gemeinen Volk» gegen die ach so superkluge Elite durchgesetzte Entscheid so schlecht nicht gewesen sein kann.

Mit zum System der Referendumsdemokratie gehört auch, dass die Politik sich den Bürgern mit mehr Fakten statt Schlagworten erklären muss, um im Abstimmungskampf zu einer einzelnen Sachfrage eine Chance zu haben. So versteht dann die Bevölkerung manchmal fast besser als gewisse Politiker, weshalb z.B. ein Tiefbahnhof mit vier Gleisen (in Zürich seit ca 1980 in Betrieb) eine gleich hohe Kapazität hat wie ein Kopfbahnhof mit 16 Gleisen und trägt das entsprechende Bauprojekt auch mit. Man braucht dann nicht mal die in der Schweiz gebräuchliche Bezeichnung Sackbahnhof zu bemühen, um der Bevölkerung aufzuzeigen, welcher Weg in die Sackgasse führt. Die Lösung für Zürich besteht im übrigen darin, dass nach dem Erfolg der Kombilösung (4 Gleise im Tiefbahnhof und Erhalt der 16 oberirdischen Gleise) - während in Stuttgart noch protestiert wurde - in aller Ruhe ein zweiter Tiefbahnhof mit nochmals vier Gleisen gebaut wurde (seit Dezember 2014 in Betrieb), dessen Notwendigkeit breit anerkannt ist ...

Angesichts der täglich erfahrbaren Erfolge ihres Systems und der guten Zugänglichkeit von Informationen aus anderen Ländern über die z.T. massiven Akzeptanzprobleme von rechtsgültigen Parlamentsentscheiden tun sich die Schweizer sehr schwer mit ausländischer Kritik an der direkten Demokratie, die sie unschwer als oberflächlich, dogmatisch und nicht sachkompetent durchschauen. Es erstaunt deshalb nicht, dass selbst früher europafreundliche Kreise wie die Sozialdemokraten oder die Westschweizer heute deutlich europaskeptischer sind als vor einigen Jahrzehnten und kaum noch jemand in der Schweiz bereit ist, für den Beitritt zu EU den Preis der Aufgabe staatlicher Selbstbestimmung zu bezahlen. Darin werden die Schweizer nicht zuletzt durch die hierzulande sehr deutlich wahrgenommene interne Kritik aus den EU-Mitgliedsländern an der wuchernden EU-Bürokratie bestärkt.


Föderalismus und Subsidiarität und seine Schattenseite: Kantönligeist

Dass Entscheide auf der tiefst möglichen Ebene getroffen werden, ist nicht nur zutiefst in schweizerischen Traditionen verankert, sondern jeglicher Versuch, dies zu verändern, ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt, solange die Zustände nicht absolut unerträglich werden (was höchstens in kleinen Teilbereichen eintritt und dann pragmatisch korrigiert wird).

Herauszufinden, welche Behörde für eine bestimmte Entscheidung zuständig ist, mag für Ausländer einer Wanderung durch einen Dschungel von Paragrafen gleichen, nichtsdestotrotz kennen die Schweizer Behörden ihre Zuständigkeiten und Kompetenzen sehr gut und halten sich auch daran.

Auch Schweizer finden es manchmal etwas bemühend, wieviele kleine Unterschiede von Kanton zu Kanton bestehen - besonders diejenigen, die in einem Kanton wohnen und in einem anderen arbeiten. Wo aus dieser Sicht die kleinen Unterschiede zwischen den Kantonen von den eher konservativen Leuten geradezu zelebriert werden und den Bürgern das kantonsübergreifende Alltagsleben oder auch kantonsübergreifende Geschäftstätigkeiten erschweren, sprechen die Schweizer dann mit kritischem Unterton vom kleinlichen Kantönligeist.

Trotzdem: der Föderalismus in der Schweiz bedeutet weder, dass alles auf lokaler Ebene entschieden wird, noch dass alles so bleibt wie es ist. Die Bundesverfassung der Schweiz besteht aus drei Teilen - Grundrechte, Kompetenzen und Pflichten der Bundesbehörden und der Kantone und Organisation der Bundesbehörden. Seit 1848 sind die Grundprinzipien unverändert geblieben, trotzdem wird die Verfassung laufend an neue Gegenheiten angepasst - mindestens einmal im Jahr, wobei es in der Regel um Details in den Zuständigkeiten der nationalen und kantonalen Behörden geht.


Stabilität und Innovationskraft

Die Erfahrung, dass die Bundesverfassung als Fundament des Staates veränderbar ist und dass die Bürger in diesen Veränderungsprozess durch obligatorische Volksabstimmungen eingebunden sind, schafft ein spezielles Verhältnis des Schweizers zu seiner Verfassung. Der Staat und seine Grundlagen werden ganz grundsätzlich nicht als "gottgegeben" betrachtet, sondern als zwar wohldefinierte, aber an die sich veränderte Umwelt anpassbare Ordnung erlebt, die dem Volk nicht aufgezwungen wird, sondern die das Volk zumindest in den groben Zügen mitgestalten kann.

Es fällt auf, dass Schweizer in der Regel deutlich weniger obrigkeitsgläubig sind als andere Europäer und das Killerargument, man könne dies oder jenes nicht tun, weil das gegen die Verfassung verstosse, nicht bloss als taktische Finte durchschauen, sondern die auf dieser Schiene argumentierenden Politiker in der Regel auch bei den nächsten Wahlen auch gnadenlos abstrafen.

Bei näherer Betrachtung stellt sich die den Schweizern oft unterstellte Behäbigkeit und Beharrlichkeit und das Festhalten am Bewährten (was manchmal auch als Sturheit interpretiert wird) als gut getarnte hohe Flexibilität heraus - mehr als man auf den ersten Blick meinen würde.

Nichtsdestotrotz wird die Verfassung in der Schweiz nicht leichtfertig geändert und die staatliche Ordnung der Schweiz gilt weltweit als eine der stabilsten - was in diversen vergleichenden Studien (z.B. der OECD) zur Standortqualität (aus wirtschaftlicher Sicht) immer als wesentlicher Standortvorteil gewertet wird, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung.

Die grundsätzlich kritische und flexible Haltung gegenüber Autoritäten beschränkt sich nicht auf den politischen Bereich, sie ist auch in der Wirtschaft zu beobachten. Schweizer erwarten, dass ihnen mit Aufgaben auch Kompetenzen und Verantwortung übertragen werden und wissen wohl zu unterscheiden zwischen Loyalität und "Dienst nach Vorschrift", der mehr der Denkfaulheit oder Demotivation des Untergebenen entspringt als der Einsicht in den Sinn von Regelungen. Kritisches und eigenständiges Mitdenken wird - zumindest von den erfolgreichen - Chefs erwartet und es zahlt sich auch aus: Die Schweiz liegt bei internationalen Vergleichen punkto Innovationskraft an vorderster Stelle. Wenn ein Ausländer als Chef das konstruktive Mitdenken seiner Mitarbeitenden als Illoyalität interpretiert, dann allerdings hat er schon verloren und wird seinen Stelle relativ schnell los.


Mehrsprachigkeit und ihre Grenzen

Über die Mehrsprachigkeit der Schweiz darf hier nicht gesprochen werden, ohne sofort eine häufig gehörte Fehlinterpretation zu korrigieren. Die Schweizer werden nicht als sprachliche Ausnahmetalente geboren und nicht jeder Schweizer spricht drei oder mehr Sprachen fliessend. Die Schweizer der verschiedenen Sprachregionen haben auch nicht wesentlich mehr Gemeinsamkeiten als z.B. die Flamen und Wallonen in Belgien. Die Unterschiede zwischen der romanischen und der germanischen Kultur und Mentalität und deren Auswirkungen auf Wirtschaftskraft, Staatsfinanzen, Ausgestaltung des Sozialstaates usw. treten auch in der Schweiz mit grosser Regelmässigkeit immer wieder zutage.

Trotzdem funktioniert in der Schweiz das Zusammenleben der verschieden Sprachgruppen so gut, dass die anscheinend unvermeidlichen Reibereien nicht als Bedrohung für den nationalen Zusammenhalt wahrgenommen werden und schon gar nicht dazu führen, dass das Land während mehr eines Jahres keine demokratisch gewählte und legitimierte Regierung hätte, wie dies 2009-2010 in Belgien der Fall war. Wo liegt der Unterschied?

Der Schlüssel zum Verständnis der mehrsprachigen Schweiz - und auch der Grenzen dieses Modells - ist der Föderalismus. Die Schweiz lässt ihren Sprachregionen so viel Autonomie wie möglich, deklariert dies aber nicht als Autonomie der Sprachregionen sondern als Autonomie von noch kleineren Einheiten, nämlich den Kantonen. So gibt es unter den 26 Kantonen der Schweiz 17 deutschsprachige, 4 französischsprachige, 3 zweisprachige Kantone (deutsch/französisch) sowie je 1 italienischsprachigen und 1 dreisprachigen Kanton (deutsch/rumantsch/italienisch). Nach Volksabstimmungen oder anderen politischen Meinungsverschiedenheiten bemüht man meist den Begriff des Röstigrabens zwischen der Deutschschweiz und der Romandie [Rösti = gebratene geriebene Kartoffeln, in der Deutschschweizer ein beliebtes Traditionsrezept, in der Romandie würden die meisten lieber verhungern als Rösti zu essen ...]. Allerdings zeigt eine Auswertung der Abstimmungsresultate nach Kantonen mit der gleichen Regelmässigkeit auch, dass es nicht nur den Röstigraben gibt, sondern der deutschsprachige Kanton Basel-Stadt meist mit den französischsprachigen Westschweizern im gleichen Boot sitzt während der italienischsprachige Kanton Tessin oft gleich abstimmt wie die Deutschschweiz. Das relativiert die allzu einfache Zuordnung unterschiedlicher Meinungen zur Sprache und wirkt damit einer Eskalation eines Sprachenstreites entgegen.

Die schweizerische Lösung für das interne Sprachenproblem bewährt sich ausgezeichnet und verhindert keineswegs, dass die Schweiz seit Jahrzehnten weltweit die stabilste Demokratie ohne ernsthafte Regierungskrisen ist. Dieser Erfolg, auf den die Schweiz zu Recht ein bisschen Stolz ist, kann und darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das schweizerische Modell der Mehrsprachigkeit mitnichten dazu geeignet ist, das Zusammenleben von Menschen aus einer Vielzahl verschiedener Kulturen und Sprachen am gleichen Ort zu regeln. Genau dies ist aber die Herausforderung, vor die sich die europäischen Staaten im Zeitalter der Globalisierung und der globalen Migration gestellt sehen. Die Schweiz hat eine der höchsten Zuwanderungsraten weltweit und tut sich entsprechend schwer mit Lösungen.




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